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Ich habe durch meine Tätigkeit als Betreuer einer Handball-Jugendmannschaft einen Fall erleben müssen, in dem einem Jugendlichen der Zeugen Jehovas aus religiösem Hintergrund das Handballspielen gegen seinen Willen verboten worden ist.

Aufgrund dieses Falles habe ich mich in die Thematik weiter eingelesen. Ich stellte fest, dass diese Sekte - die im landläufigen Sinn als harmlos und vielleicht sogar als Spinner angesehen werden - ein zutiefst menschenverachtendes und brutales Weltbild propagiert.

So dürfen Zeugen Jehovas - ferngesteuert von der Leitenden Körperschaft aus Brooklyn -  weder mehr als nur den unumgänglichsten Kontakt mit Andersgläubigen haben, noch Weihnachten und Geburtstag feiern sondern müssen von Kindesbeinen an bei deren Gottesdiensten stillsitzen und ein unheimliches Pensum an Missionsdiensten Haus-zu-Haus leisten  Sie werden verängstigt mit der Weltanschauung, dass nur derjenige, den Untergang der Welt überlebt, der ein wahrer und treuer Zeuge Jehovas ist, und der nur im Sinne Jehovas lebt. Bereits kleine Verfehlungen können den Zorn ihres Gottes hervorrufen. Bei Sünden - wie z.B. Kontakt mit Andersgläubigen, Teilnahme an weltlichen Festen, Küssen eines Jungen/Mädchens, Vernachlässigung vcn Diensten können drakonsche Strafen ausgesprochen werden. Dies geht vom drakonschen Dienstverpflichtungen über temporären Gemeinschaftsentzug bis hin zum Ausschluß. Im Falle eines Entzuges und Ausschlusses verlieren die Zeugen ihr gesamtes soziales Umfeld; auch ihre Eltern und Angehörige sind gehalten, keinen Kontakt mehr zu haben. Wenn doch, dann...

Nicht nur ich bin der Meinung, dass diese destruktive Sekte Menschen zerstören kann und vor allem Jugendliche die gesunde Entwicklung verwehrt. Ich fordere alle Leser dieser Seite auf, genauer hinzusehen und geeignete Maßnahmen, wie. z.B. das Einschalten des Jugendamtes zu ergreifen.

Hier eine gut gemachte Seite, die diese Thematik weiter vertieft:

http://www.zeugenjehovas-ausstieg.de/

Natürlich übernehme ich keine Verantwortung für sämtliche verlinkten Inhalte; auch der anderen Links.


Ich habe einen sehr beeindruckenden Text von Amber Scorah übersetzt. Sie war eine kanadische Missionarin, die während ihrer Missionsarbeit in China die Unmenschlichkeit dieser "Religonsgemeinschaft" selbst erlebte.



Amber Scorah: Wie ich die Zeugen Jehovas verließ

Deutsch von Axel Evers


Eine Missionarin der Zeugen Jehovas lernt die Freiheit des Denkens im totalitären China


Die Ältesten zitierten mich zum Starbuck's in der Nanking Road in Shanghai's Zentrum. Die Sonne schien hell an diesem Tag, sogar der übliche Smog verzog sich langsam. Als ich ankam, begrüßten mich Bruder Steven und Bruder Richard. Sie hatten mir bereits einen Eiskaffee spendiert. Die Eiswürfel an der Oberfläche begannen bereits zu schmelzen. Ich rührte ihn mit dem Strohhalm um.


Bruder Steven begann:

Amber, wir wollen mit Dir reden, weil wir einige Dinge über Dich gehört haben.“ Er räusperte sich. Bruder Richard starrte an mir vorbei. „Wir wollten Dich treffen, um Dich im Glauben zu ermutigen und Dir zu helfen. Bleibe ruhig!“


Die Sonne blendete meine Augen, die Situation kam mir vor wie ein Verhör.


Kannst Du Dir denken, um was es geht?“


Ja, es ging sicher um die Gespräche mit meiner früheren Bibelschülerin Jean, einer jungen chinesischen Lehrerin. Ich konnte noch nie gut lügen, also beschloss ich, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sicher, Jean war verwirrt. Aber mich drängte es, ihr einige Dinge zu erklären.


Klar,“ sagte Bruder Steven „Erzähle uns bitte alles genau von Beginn an!“


Wie wir unseren Kaffee tranken, unterschieden wir uns nicht von anderen Ausländern, die in Shanghai lebten. Aber das waren wir nicht. Wir waren Zeugen Jehovas. Wir kamen, jeder von uns, mit Taschen voller Wachtturm-Publikationen hierher, die sorgfältig in Geschenkpapier eingeschlagen oder zwischen Socken versteckt waren. Diese brauchten wir, um Chinesen zu unserem Glauben zu missionieren. Wir wussten von Zeugen, die von der chinesischen Regierung beobachtet, abgehört, verfolgt und deportiert wurden. Wir waren alle drei Kriminelle in den Augen der chinesischen Machthaber. Aber nur eine von uns hielten die Ältesten für eine Verbrecherin. Und dieses Treffen im Starbuck's würde mit einer ganz besonderen Art der Deportation enden. Mit einem schnellen Tritt, der mich aus meinem Leben, das ich seit dreißig Jahren führte, katapultierte; hinein in ein einschüchterndes, kompliziertes Leben, dass ich mir nur schwer vorstellen konnte.



2003 begann ich in einem Abendkurs in unserer Gemeinde in Vancouver Mandarin-Chinesisch zu lernen. Ich war eine gläubige Zeugin Jehovas seitdem ich ein Kind war, und ich wurde mit dem Tag, als ich die High School abschloß, eine Vollzeit-Missionarin. Es war ein ziemlich typischer Weg. Karriere zu machen galt als verwerflich und lenkte von dem ab, was wirklich wichtig war: Missionieren!


Vier Tage in der Woche zog ich meine bescheidene Kleidung und praktische Schuhe an, füllte meine Aktentasche mit Zeitschriften und anderen Publikationen und ging in den Königreichssaal in der Nähe meiner Heimat Kitsilano. Ich wurde mit anderen Zeugen in ein Auto verladen und in unser zugewiesenen Gebiet - den wohlhabenden Vierteln im Westen von Vancouver - gebracht.


Wir klingelten Straße für Straße, von Haus zu Haus an Wohnungen. Manche Leute waren höflich; die meisten waren nur genervt. Ab und zu schlug mir jemand die Tür vor der Nase zu oder schrie mich an. Viele Menschen wollten gar nicht mit mir reden. Missionsarbeit war nicht einfach in Vancouver.


Nichts bremste meinen Eifer. Wir waren an konstante Ablehnung gewöhnt. Dreimal in der Woche lernten wir in Kursen, wie Einwände zu behandeln sind und man brachte uns die richtige Rhetorik eines Predigers bei. Alle meine Freunde waren auch Zeugen. Ausgehen mit "weltlichen Menschen" war verboten. So waren wir alle im selben Boot, und die siebzig-plus Stunden pro Monat, die wir mit Missionieren verbrachten, stellten uns bei Jehova in ein gutes Licht. Außerdem wussten wir, dass all diese Leute sowieso in Harmageddon umkämen. Es war einfach, die Schikanen nicht zu persönlich zu nehmen.


Eines Tages hörte ich von einer neuen Idee, chinesische Einwanderer zu missionieren. Ich wollte Menschen ansprechen, die zuhören, statt bei diesen reichen, selbstzufriedenen Vancouver-Typen zu predigen. Einwanderer schien perfekt. So habe ich mich für den kostenlosen Mandarin-Unterricht in unserer Gemeinde angemeldet.


Chinesisch zu lernen war sehr anstrengend. Bereits nach der ersten Lektion fühlte ich mich, als täten sämtliche Muskeln im meinem Mund weh. Obwohl meine Fortschritte langsam waren, hielt ich plötzlich mehr Bibelstunden als ich schaffen konnte. Schließlich kaufte ich mir einen billigen 1982 Volvo Kombi, und fuhr in der ganzen Stadt herum, um stundenlang Bibelstudien mit chinesischen Einwanderern zu halten.


Nach einem Jahr beschloss ich, meinen Teilzeit-Job zu kündigen und nach China zu ziehen. Trotz der positiven Resonanz, die ich von chinesischen Einwanderern in Kanada erfuhr, war ich aufgeregt. Ich wußte endlich, warum Gott mit Harmageddon noch wartete. Es waren noch 1,3 Milliarden Menschen vor dem Ende der Welt zu erreichen.


Drei Mal pro Woche treffen sich 110.000 Gemeinden auf der ganzen Welt, um genau das gleiche Material von einer zentralen Leitungsgremium in Brooklyn zu studieren. Die häufigste Thema dieser Zusammnkünfte ist, wie man Harmageddon, das Ende der Welt überleben kann: Predigt mit dem Ziel der Bekehrung von Menschen, damit ihr dessen Leben rettet. Jeder Zeuge ist ständig unter Druck, mehr Zeit mit der Missionierung zu verbringen, da nur Zeugen Jehovas gerettet werden. Der Predigtdienst ist auch der Weg, um das eigene Leben zu retten.


Zeugen Jehovas sollen keine Universität besuchen. In dieser Religion ist kein Platz für kritische Denker und Kritiker. Sie werden schnell mundtot gemacht. Während die eigenen Überzeugungen immer auf den Prüfstand gestellt werden, ist die letztendliche Konsequenz jeder Verfehlung oder Nichtübereinstimmung mit den Lehren der Gesellschaft der Ausschluß aus der Sekte.


Manchmal hörte ich Gerüchte über "abtrünnige Materialien". Bücher, Videos oder Audioaufnahmen, die die Zeugen oder die Lehren verunglimpfen, Ungereimtheiten in Bezug auf ihre Lehre aufdecken oder Debatten zu heißen Themen wie Bluttransfusionen entfachen. Ich war ziemlich neugierig auf diese Materialien. Wir wurden streng davor gewarnt. Aber jede Literatur dieser Art (diese Geschichte, zum Beispiel) wird als destruktiv und hinterlistig gebrandmarkt, und der Autor ist schlimmer als der Teufel selber. Es ist also Sünde, dich deiner Neugier hinzugeben.


Von Kindheit an wurden wir gelehrt, unsere ganze Energie, Talente und Zeit auf unsere Verkündigungsmission zu konzentrieren. Ich hatte nie mit dem Gedanken an eine Karriere gespielt, davon war nie die Rede. Das ideale Leben bestand darin, eine Teilzeitarbeit zu finden, vielleicht als Fensterputzer oder Friseur, um genug Zeit für den Missionsdienst zu haben. Dreimal in der Woche wurde diese Lebensform im Königreichssaal durch Vorträge, Symposien, Vorführungen, Bibelstudien und Gespräche bekräftigt. Wir hatten selten Kontakt mit Nicht-Zeugen, zu weltlichen Menschen, weil wir ihren verderblichen Einfluss vermeiden mussten. Wir lebten in unserer eigenen Welt.


Als ich nach China kam, betrat ich eine andere Welt. Missionierung ist illegal. Religiöse Versammlungen sind verboten. Die Predigten und Versammlungen müssen im Untergrund stattfinden. Dies bedeutet, dass sich die Handvoll Zeugen in Shanghai nur heimlich treffen können. Das macht es fast unmöglich, öfter als einmal pro Woche zusammenzukommen. Predigtdienst in der üblichen Tür-zu-Tür-Methode kommt nicht in Frage. Für mich als Zeuge, der an ein routiniertes, uniformes Leben gewöhnt war, war das ein beispielloses Abenteuer.


Ein paar Wochen, nachdem ich in Shanghai angekommen war, erhielt ich eine kryptische Nachricht von einem Mann, der sich James nannte. Einige von uns verwendeten falsche Namen; wir wussten, dass die chinesische Regierung z.B. den E-Mail Verkehr überwachen liess. Er schlug vor, sich in einem belebten französischen Restaurant zu treffen. Ich sollte, wenn ich eintraf, seine Nummer anrufen, danach würde er mir zuwinken. Wir plauderten ein paar Minuten, dann kam er schnell auf den Punkt. In kurzen Worten erklärte er mir die Anweisungen der Zweigstelle der Zeugen Jehovas, wie ich meine Missionsarbeit betreiben muss. Es war meine Aufgabe, schnellstens zur Tarnung einen Job zu finden; zum Beispiel als Englischlehrerin. Dann sollte ich so schnell wie möglich Kontakt zu weltlichen Menschen aufbauen, zu Chinesen als auch zu Menschen der westlichen Welt. Diese Freundschaften dienten nur der Bekehrung.


Das klang verrückt für mich. Jeden Tag in meinem Leben wurde mir gesagt, dass ich von diesen Leuten wegbleiben sollte. Und ich tat es. Ich fand Ausreden, um nicht mit Kollegen zum Mittagessen gehen zu müssen. Ich hatte den Jungen, der in der High School auf mich stand, abblitzen lassen. Ich war diejenige, die nach der Schule nicht zum Sport ging; ich verschmähte Einladungen zu Geburtstagspartys und ich ging auch nicht zum Abschlussball. Alles aus Angst vor Jehovas Zorn. Aber nun hatte ich meine Anweisungen. Es gab keine andere Wahl.


Das erste Mal versuchte ich, in einer Buchhandlung an der Fuzhou Road, ein paar Blocks vom Platz des Volkes entfernt, einen weltlichen Freund zu finden. Ich sah mich nach Überwachungskameras um. Auch wenn der Laden richtig voll war, fiel ich als großes weißes Mädchen unter den kleineren, einheitlich gekleideten Massen unweigerlich auf.


Unsicher ging ich in die Abteilung für englische Literatur. Ich hoffte, dort weniger Aufsehen zu erregen. Ich nahm mir ein englisches Lehrbuch, und beobachtete mein Umfeld, indem ich über den Rand des Buches blickte. Ich war nervös. Ich konnte an Türen klingeln und predigen. Und mein Chinesisch war immer noch ziemlich schlecht. Ich wusste nicht, wie ich die Leute ansprechen sollte.


Eine junge Frau, Ende zwanzig, mit Nickelbrille blieb am Regal neben mir stehen. Sie trug einen engen Mohairpullover und eine karierte Wollhose. Ihr einfaches Äußeres schien genau richtig, um sie anzusprechen.


"Ni hao", sagte ich selbstbewusst.


Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Sie sprechen Chinesisch!“, freute sie sich.


"Bu hao tai." - "Nicht zu gut."


"Waaa, tai hao le!" - "Wow, das ist unglaublich!"


Und so traf ich Jean.


Jean lud mich am nächsten Tag zum Abendessen ein. Sie beschrieb mir genau den Weg mit der U-Bahn zu ihrer Wohnung. „Nehmen Sie die Linie 3 bis Caoxi. Wenn Sie den IKEA sehen, sind sich schon fast da. Dann gehen Sie eine scharfe Rechtskurve und Sie sind bei mir.“


Ich stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Ich sah andere Bewohner, wie sich sich am Ende der offenen Flure in den Gemeinschaftsküchen ihr Abendessen zubereiteten. Ich fand Jeans Tür und klopfte.


"Ni hao!", sagte Jean aufgeregt, und öffnete das Metallgitter.


Ich sah zwei Betten, die als „L“ in den Raum gestellt waren. Ihre Zimmergenossin stand unschlüssig neben dem Bett mit der zerzausten rosa Decke. Zwischen den beiden Betten war ein Tisch, auf dem bereits das Essen stand. Vier Gerichte: gedünstetes Gemüse, Sojabohnen mit Paprika, Fleisch in einer Sauce, gebratener Tofu und Reis in einem Reiskocher.


"Huanying. Qing jin! " - „Willkommen. Herein!" Jeans Mitbewohnerin lächelte; ihre Augen leuchteten.


Jean hatte bereits Stäbchen und Schüsseln in der Spüle neben dem Bad abgespült und stellte sie noch nass auf den Tisch.


"Ich hoffe, es schmeckt euch. Ich fürchte, es ist nicht sehr gut. "


Jean öffnete den Deckel des elektrischen Reiskochers und schöpfte den Reis in unserer Schalen.


"Chi fan!" - "Guten Appetit!"


Sie griff nach den Platten, nahm ihre Stäbchen und legte ein Stück Fleisch auf meinen Reis, dann einige Blatt Gemüse. Sie forderte mich auf, zu essen. Ich wollte auf sie warten, aber sie bestand darauf, dass ich anfing. Die Mitbewohnerin beobachtete, wie ich einen Bissen nahm.


"Hao chi", sagte ich, begeistert. Ich suchte nach Worten. Das was mir an Vokabeln fehlte, versuchte ich, durch den Tonfall auszudrücken.


Jean klatschte in die Hände und lachte. Sie sagte kopfschüttelnd: "Bu hao chi" - "Es schmeckt schrecklich!"


"Nein! Es ist köstlich", protestierte ich. Sie war wirklich eine gute Köchin.


Wir plauderten halb Chinesich, halb Englisch, während wir aßen. Jeans Englisch war gut, viel besser als mein Chinesisch. Ihre Mitbewohnerin war neidisch auf sie. Jean studierte viel, und war das einzige Kind in ihrem Dorf im nördlichen Jiangsu, das Englisch sprechen konnte. Ihr älterer Cousin brachte ihr immer Bücher mit, wenn er von seinen Geschäftsreisen nach Tianjin zurückkam. Vor zwei Jahren zog Jean zum Arbeiten nach Shanghai. Sie hatte einen Job als Empfangsdame an einer Immobilien-Gesellschaft gefunden, aber sie träumte davon, Chinesischlehrerin zu werden. Jeden Monat schickte sie einen Teil ihres Lohns zu ihren Eltern. Trotz der Ein-Kind-Politik hatten ihre Eltern es geschafft, sechs Kinder - fünf Mädchen und einen Jungen - großzuziehen. Eines der Mädchen wurde registriert, der Rest der Familie zog oft um, um Geldbußen oder Sterilisation zu vermeiden. Sie hörten auf. nachdem sie einen Jungen hatten.


Jean mochte ihren Job, ihr Chef war Engländer, und sie bekam manchmal die Chance, sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprach gerne über weltliche Themen wie Essen oder die neuesten Frisuren. Sie verdiente 1.800 Renminbi pro Monat, das entspricht etwa 280 Dollar.


Bruder James gab mir den Rat, bevor ich meinen neuen Freunden etwas von der Bibel erzählte, sollte ich herausfinden, ob die Familie mit der kommunistischen Partei sympathisiert. Wer ein Mitglied der Partei war stellte eine potenzielle Gefahr dar und der Kontakt musste sofort abgebrochen werden. Ein Mitglied der Partei kann einen Zeugen Jehovas aus Loyalität gegenüber dem Regime verraten. Auf der anderen Seite war es möglich, dass einige Leute Parteimitglieder wurden, um bestimmte Berufe ausüben zu können; das heißt, sie waren nur dem Namen nach kommunistisch. Da war es nicht so riskant, sich mit ihnen anzufreunden. Ich versuchte, das Gespräch zurück auf ihre Familie zu lenken.


"Also ... mit was verdient Ihr Vater in der Provinz Jiangsu seinen Lebensunterhalt?"


"Er ist Bauer."


Dies klang sicher. Oder waren die Bauern Kommunisten? Mussten sie nicht einen Teil ihrer Ernte an den Staat abgeben? Ich habe mich versucht, an die chinesischen Filme, die ich gesehen hatte, zu erinnern. Das war meine einzige Erfahrung.


"Was ist mit Ihrer Mutter?"


"Sie kümmert sich meistens um die Kinder und meine Großmutter. Manchmal hilft sie mit der Landwirtschaft oder macht Handarbeiten für andere.“

Oh, richtig, sie hatten ja sechs Kinder. Ich war mir sicher, dass sie keine Kommunisten waren.


"Und Ihre Brüder und Schwestern, arbeiten sie alle?"


"Meine jüngere Schwester ist noch in der Schule, meine ältere Schwester hat ein Baby. Mein Bruder ist in der Armee. "


Armee! Warum hatte James nichts über die Armee erwähnt? Meine Alarmglocke schrillte. Wenn ihr Bruder beim Militär war, müssen Sie Kommunisten sein.


"Aber er schrieb meinen Eltern, um ihnen zu sagen, dass er ein Popstar werden wolle. Sie sind sehr verärgert. Aber er löcherte mich die ganze Zeit, so dass ich Geld gespart habe und ihm eine Gitarre zu seinem Geburtstag kaufte. Hier ist ein Foto von ihm, wie er spielt." Sie klappte ihr Handy auf. Seine typische Teenagerpose beruhigte mich. Ich konnte mir nicht denken, dass er mit der Partei sympathisierte.


Wir waren mit dem Essen fertig, und Jean ließ mich nicht mit aufräumen. "Setz' dich, setz dich!" befahl sie mir, und drückte mich mit einem Arm in die Polster. Als sie abtrug, erwähnte sie, dass es noch eine Überraschung gäbe. „Dessert und Kaffee!“ sagte sie strahlend. Alles beide schien eine Seltenheit in China zu sein.


"Wir gehen zu IKEA." Ihre Augen glänzten. "Du weißt, dass man da kostenlos soviel Kaffee bekommen kann, wie man möchte? Viele Chinesen verstehen das nicht. Sie glauben, ihr seid verrückt. "


Wir zogen unsere Jacken an und gingen die fünf Stockwerke nach unten. Es wurde schon ein wenig kühl, es war Oktober. Als wir auf den gelb/blauen Monolithen zusteuerten, konnte ich noch nicht die Vorfreude meiner neuen Freundin verstehen. Aber mit der Zeit, als aus wenigen Monaten in Shanghai Jahre wurden, fing ich an, mich ebenfalls auf solchen richtigen Kaffee zu freuen.


Die Cafeteria bot einige chinesische Speisen, war aber sonst identisch mit jedem anderen IKEA, billig und hell. Ich könnte mich wie zu Hause in Vancouver fühlen, wenn es da nicht das chaotische „Schlangenhüpfen“ gäbe und die Gäste, die dort den mitgebrachten Reis verzehrten. Viele der Gäste waren Bewohner, die in den maroden Gassen hinter dem riesigen gelben Haus wohnten. Die Einheimischen machten das Beste daraus und genossen die kostenlose Klimaanlage, so dass IKEA quasi ihr Wohnzimmer war.


Ich entschied mich für ein Mini-Käsekuchen mit Stachelbeeren aus der Dose; Jean nahm einen Schokoladenpudding. Ich zahlte, trotz ihrer heftigen Proteste, und wir gingen mit unseren Bechern an die Kaffee-Station. Die Leute plünderten förmlich die Pakete mit pulverförmigen Kaffeeweißen und Zucker. Eine ältere Dame wunderte sich, dass ich mich nicht an dieser Plünderung beteiligte. „Es ist umsonst!“ wies sie mich zurecht.


Wir fanden eine kleinen leeren Tisch am Fenster. Viele Menschen schwirrten um uns herum, ihre leeren Tabletts und Geschirr stapelten sich auf den Tischen. Alte Damen passten auf ihre Enkelkinder auf. Ein paar Kinder stürmten in den Ausstellungsraum und spielten in den Muster-Schlafzimmern. Jean und ich unterhielten uns lange. Wir füllten unsere Kaffeetassen zweimal nach. Schließlich verabredeten wir uns am Wochenende für eine Radtour. Jean wollte mir ein Hunan Restaurant zeigen.


Und so begann ich langsam und unaufhörlich, diese neue Welt zu infiltrieren.


Ich nahm täglich mit Ausländern aus der ganzen Welt am Sprachunterricht teil. Von denen kannte keiner meine Religionszugehörigkeit. Meine Lehrerin war von meinen Fortschritten so begeistert, dass sie mich oft meinen Mitschülern als Vorbild hinstellte. "Sie werden in zwei Jahren flüssig Chinesisch sprechen! Sie.."- sie deutete auf die Kommilitonen neben mir -"..nicht!", und schüttelte den Kopf. Nach dem Unterricht ging ich mit meinen Mitstudenten aus. Sie hatten alle unterschiedliche Motive, Chinesisch zu lernen. Einige kamen nach China, um Party zu machen, einige waren hier, um chinesische Mädchen kennenzulernen, einige um Geld zu verdienen. Ich blieb immer sehr vage mit der Aussage, warum ich Chinesisch lernen wollte. James hatte in mein Gehirn gehämmert: Nichts enthüllen! Und ich, gewohnt, gehorsam zu sein, erfand die Englischlehrerin mit einem unerklärlichen Interesse für das chinesische Volk.


Als ich mich mit diesen weltlichen Menschen abgab, war es für mich schwer, das Gefühl, dass ich sündigte, zu unterdrücken. Diese Menschen schworen, sie rauchten, einige von ihnen soffen. Sie machten Hinweise auf Dinge, die ich nicht kannte. Ich verstand ihre Anspielungen nicht, und hatte ihre Bücher, ihre Filme nicht gelesen oder gesehen. Aber ich lernte schnell. Ich musste mitspielen, wollte ich nicht auffliegen. Außerdem war es interessant, etwas über ihr Leben zu erfahren. Ich folgte meinen Befehlen und bekam Absolution, so das alles, was ich tat, vor Jehova nicht zählte.


Zusätzlich zu meinen Schulfreunden plante ich, dass ich jeden Tag mit Chinesen sprechen konnte. Ich saß in Restaurants, ging im Huaihai Park spazieren, las Bücher auf öffentlichen Plätzen oder fuhr U-Bahn und Bus. Trotz meines gebrochenen Chinesisch, konnte ich schnell mit der Bevölkerung in Kontakt kommen. Ich betete um Gottes Hilfe, es war jedoch einfach für Einheimische, die sich mit mir unterhalten wollten, weil ich das ja auch selbst wollte.


Jean wurde meine erste Bibelschülerin. Ich habe das Thema bereits nach unserem Radtour-Wochenende angeschnitten. An diesem Tag hatte ich viele wichtige neue Eindrücke gewonnen. Schließlich setzten wir uns zu geschmortem Rindfleisch und gedünstetem Fischkopf zusammen. Ich hatte bereits ein paar Ansätze im Hinterkopf, und zog aus meinem geistigen Rüstzeug die Startfloskeln der Zeugen Jehovas.


Jean, als Du mir erzähltest, dass deine Großmutter starb, hatte mich das daran erinnert, wie mein Vater gestorben ist. Ich kann Dich gut verstehen!“


Jean antwortete, ich hörte gar nicht zu , weil ich bereits den nächsten Satz vor Augen hatte.


Das klingt vielleicht seltsam, aber es gibt einen Weg, sie wiedersehen zu können.“


Die gute Jean hob höflich die Augenbrauen. „Wirklich?“ fragte sie.


Ja. Wenn ich traurig über den Tod meines Vaters war, wollte ich die Bibel lesen, was über den Tod geschrieben steht. Kennst Du die Bibel?“


"Nein, aber ich bin so daran interessiert! Ich liebe Weihnachten. Die erste ausländische Freundin, die ich jemals hatte, war eine christliche Frau, und sie war so nett zu mir. Sie kam sogar einmal mit, meine Familie zu besuchen. Aber dann musste sie China verlassen, so dass ich sie nie wieder gesehen habe. "


"Oh, wow, das ist unglaublich, ich wusste nicht, dass wir etwas gemeinsam haben. Wenn Du willst, bringe ich das nächste Mal eine Bibel und ein Buch für Dich mit. Ich glaube, das wird Dir gefallen. "


Jean stimmte begeistert zu. Ich fühlte mich erleichtert, dass ich getan hatte, was ich tun sollte. Ich war stolz darauf, dass ich meine erste Bibelschülerin in China hatte. Ich wünschte, ich könnte eine E-Mail nach Hause schicken, aber es war verboten, über unsere Arbeit hier zu reden. Ich merkte, dass ich Jean auf einen Weg führte, der verboten war und das würde bedeuten, wenn alles gut ging, dass sie eine Feindin des Staates zu werden drohte, der im Untergrund leben muss. Sie wird den Kontakt zu ihrer Familie aufgeben müssen, und wird sich von ihren bisherigen Freunden lossagen. Und wahrscheinlich würde sie nicht heiraten oder Kinder haben können - Zeugen konnten nicht außerhalb ihres Glaubens heiraten, und es gab nur sehr wenige Zeugen in der Volksrepublik China. Aber ich fühlte, es war nur ein kleiner Preis den Jean für die Wahrheit zahlen musste. Wenn ich sie bekehren konnte, konnte sie Harmageddon überleben.


Ich musste immer noch vorsichtig sein. Ich wollte ihr eigentlich nicht sagen, wo ich wohnte. Zunächst trafen wir uns für unsere Studien in öffentlichen Parks. Bis zu einem regnerischen Tag, als ich zwei Männer in Polyesteranzügen bemerkte, die offensichtlich Fotos von uns machten. Wir trennten uns sofort, ich nahm die U-Bahn in die falsche Richtung, nur um sicher zu sein. Danach überredete ich Jean, dass wir uns in verschiedenen westlichen Cafés treffen sollten. Wir gingen nie länger als ein, zwei Wochen lang in die gleichen. Ich klebte Geschenkpapier über die Titelseiten der Wachtturm-Literatur, damit die Leute nicht sahen, was es war.


Jean liebte westliche Kultur. Ihr Antrieb, Englisch zu lernen kam von ihrem unstillbaren Durst, mehr über die westliche Welt zu erfahren. Ich war das perfekte Werkzeug. Und sie meines. Wir studierten die Hälfte in Chinesisch, die andere Hälfte in Englisch. Für Passanten, sah es wie eine sprachliche Nachhilfestunde aus. Jean war mit allem einverstanden, was ich sagte. Sie lernte die englischen Wörtern Gott, Jesus, Harmageddon. Sie entwickelte eine Vorliebe für Cappuccino.


Bald war ich damit beschäftigt, mit meinem Fahrrad kreuz und quer durch Shanghai zu fahren, um Bibelstudienkreise mit meinen chinesischen Schülern zu leiten. Die Bücher dazu waren in meinem Rucksack. Da sich mein Chinesisch verbesserte, merkte ich rasch, dass die Bewohner Chinas ganz anders auf meine Botschaft reagierten als die Emigranten in Vancouver es taten. Die Dinge, die ich aus der Bibel lehrte, waren unverständlich. Schöpfung? Gott? Ewiges Leben? Nicht aufs College zu gehen? Kein Geld zu verdienen? Sie lachten manchmal ein wenig, vor allem bei der letzten Vorstellung. Aber keiner von ihnen verließ den Studienkreis. Sie begannen, mich zum Abendessen in die schönsten Restaurants einzuladen und mir die erlesensten Speisen zu bestellen.


Woche für Woche traf ich Jean. Wir wurden gute Freunde. Sie begann, mir Nachhilfe in Chinesisch zu geben und ich half ihr, einen Job als Lehrerin in einer ausländisch geführten Sprachschule zu finden. Sie war talentiert. Ich dachte mir oft, dass sie eine gute Predigerin abgeben würde, wenn sie eines Tages bereit ist.


Als wir uns mit der Zeit besser kennen lernten, verstand ich immer mehr Jeans Einstellung. Sie war seit unserem ersten Abendessen an glücklich, eine westliche Frau kennengelernt zu haben. Meine Voraussetzungen an unsere Freundschaft – das gemeinsame Bibelstudium - nahm sie in Kauf. Das galt für alle meine Bibelschüler. Die meisten Chinesen können nichts mit den westlichen Vorstellungen von Auferstehung, Schöpfung und Paradies anfangen. In Vancouver war ich, das verstand ich jetzt, für die Einwanderer nichts anderes gewesen als ein Englischlehrer, der in einem Volvo herumzog und ihnen kostenlosen Unterricht der kanadischen Lebensweise bot. Diese war für sie sehr verblüffend. In China gab es keinen Grund, eben diese Lebensweise zu verstehen. Die 1,3 Milliarden Menschen, die ich versuche zu missionieren, leben ganz anders wie bei uns. Die Bibelstunden, waren bizarre Abstraktionen, die man in Kauf nahm, wenn man einen westlichen Freund hatte.


Früher oder später kamen wir im Lehrbuch zum Thema Harmageddon. Und ich musste die doppelseitige Darstellung, in der Feuer vom Himmel fiel und sterbende Menschen taumelnd in die aufgerissene Erde fielen, erklären. Als ich dies tat, begriff ich das erste Mal richtig, was ich da sagte: „Weil ihr hier geboren seid, wird Gott euch und eure Familien töten. Mich nicht, da ich im rechten Glauben geboren bin. Weil ihr in einer anderen Kultur, in anderen Lebensumständen mit anderen Glauben, mit anderer Mentalität aufgewachsen seid, werdet ihr sterben und ich weiterleben! Mir wurde das seitdem ich fünf war, so gelehrt, dass das wahr ist. Und euch nicht!“


Ich schämte mich.


In einem der restriktivsten, totalitärsten Staaten in der Welt konnte ich zum ersten Mal in meinem Leben frei denken. Ich war nicht mehr gezwungen, nach meinem Teilzeitjob zu Predigten, Bibelstunden, Kongressen oder Tagungen und zu sozialen Aktivitäten der Gemeinde zu rennen. Ich musste nicht mehr meine Tage damit verbringen, an Türen zu klopfen. Ich brauchte nicht mehr dreimal in der Woche im Königreichssaal zu sitzen, meine Hände zu heben und Antworten aus Wachtturm-Zeitschriften nachzuplappern. Und ich brauchte auch nicht mehr meine wenige freie Zeit dazu zu verwenden, Antworten aus der letzten Sitzung bis zur nächsten zu suchen.


Ein Jahr verging. Ich konnte die Wachtturm-Literatur nicht mehr ohne Stirnrunzeln lesen; ich suchte nach Anweisungen, wie das Wort auf die Umstände in China anzuwenden wäre. Ich fand es immer schwerer zu glauben, dass diese Religion die einzig wahre Religion, der einzige Weg zum Glück war. Ich wusste, dass ich bei Harmageddon für diese Gedanken sterben würde. Ich wusste, dass ich dafür von der Kirche geächtet werden und für meine Freunde und meiner Familie nicht mehr existieren würde. Sünder werden ausgeschlossen: Sex vor der Ehe, Ehebruch, Homosexualität, Trunkenheit, Rauchen ... die Liste der Sünden ist lang. Ich kannte die Konsequenzen, da ich vor vielen Jahren Sex mit meinem Freund hatte, der auch Zeuge war. Wir mussten die Details unserer sexuellen Begegnungen vor einem Gremium von drei alten Männern schildern, nachdem wir gestanden hatten. Niemand zwang uns zu gestehen; wir hätten mit der Sünde leben oder ein Doppelleben führen können. Doch spätestens bei Harmageddon wären wir tot, da Gott alles sah. Die drei Ältesten, die zu meinem Verhör einberufen waren, hatten noch Fragen. Deshalb kam es zu einer scheinbar notwendigen Verhandlung; ich musste die ganze Begegnung wiederkäuen, bei der ich meine Jungfräulichkeit verlor.


"Wie oft habt ihr miteinander geschlafen?"


"Wie ist es dazu gekommen?"


"Gab es Petting?"


"Habt ihr eueren Höhepunkt erlebt?"


"Hat er ejakuliert?"


"Habt ihr verhütet?"


"Wer kaufte die Verhütungsmittel?"


"Gab es – ähem – oralen Kontakt?"



Mein Freund und ich wurden ausgeschlossen. Wenn wir zu den Gottesdiensten kamen, die wir besuchen mussten, um wieder aufgenommen zu werden, mussten wir in der letzten Reihe sitzen, und sie unmittelbar danach wieder verlassen. Niemand durfte mit uns zu sprechen.


Mein Vater starb im selben Jahr. Ich ging zu seiner Beerdigung in den Königreichssaal. Ich saß in der letzten Reihe. Niemand sprach mit mir.


Am Tag, als die Ältesten mich im Starbucks verhörten, schwankte ich zwischen dem Wunsch, dazuzugehören, auch mit der Überzeugung, dass ich recht habe, auch wenn alle anderen falsch ist, und der Möglichkeit, alles hinter mir zu lassen.


Bruder Richard und Bruder Steven warteten geduldig auf meine Antwort.


"Ich hatte in letzter Zeit Jean nicht oft gesehen und ich wusste, dass sie sich wunderte, warum ich mit dem Studium mit ihr aufgehört hatte. Ich sagte ihr, dass ich nachgedacht habe und festgestellt habe, dass ich mich in manchem irrte. "


Die Ältesten fingen an, sich Notizen zu machen.


"Ich gestand ihr, dass ich mich fragte, was ich ihr beigebracht hätte. Ich dachte, es war die Wahrheit und ich hatte nie die Absicht, sie in die Irre führen, aber es gab Dinge, die nicht so sein konnte, wie ich glaubte."


Bruder Steven sah auf, als ich endete und sagte anerkennend "Danke, dass du so ehrlich warst."


"Zum Schluß eröffnete ich ihr, dass ich sie sehr gerne hätte und dass wir Freunde bleiben sollten, wenn sie wollte."


Ich behielt einiges für mich. Ich sagte ihnen nichts über die kritischen Bücher, die ich von einem ehemaligen Mitglied der Leitenden Körperschaft gelesen hatte. Er wurde wegen dieser unverzeihlichen Enthüllungen ausgeschlossen. Ich sprach nicht die Tatsache an, dass die Wachtturm-Gesellschaft Kindesmissbrauchsfälle vertuschte. Auch über Menschen, die wegen einer verweigerten Bluttransfusion gestorben waren, redete ich nicht. Ich berichtete nichts über einen Bruder, der sich in meiner Heimatgemeinde Vancouver in den Wäldern von British Columbia aufgehängt hatte. Er wurde ausgeschlossen, nur weil er homosexuell war. Ich erwähnte auch nicht, dass ich mich fast jedem Vergehens schuldig gemacht habe, die im „Sündenkatalog“ der Zeugen Jehovas standen. Dass wir uns als Elite fühlten, dass wir die Welt in "Uns" und "Draußen“ aufteilten. Ich unterdrückte es, zu sagen, dass ich mich als mieser Verkäufer fühlte, der zwar Liebe verkaufte, aber mit dem Ziel, die Menschen übers Ohr zu hauen.


Es war still zwischen uns, als ich über diese Dinge nachdachte, die ich ihnen nicht sagte. Aber zumindest Bruder Steven spürte, dass da noch mehr war. Sie waren den Prinzipien ihrer Religion treu und ich hatte in ihren Augen die schlimmste Sünde begangen, eine, die ihr Gott nie verzeiht. Ich war abtrünnig!


Sie baten um ein Gespräch unter vier Augen. Ich ging auf die Toilette. Ich wusch meine Hände. Alles, was bisher zählte, brach weg: meine Freunde, meine Familie, meine Erinnerungen, der Sinn des Lebens, meine Einstellung und meine Zukunft. Und ich hatte es so gewollt.


Schließlich hörte ich mein „Urteil“ Ausgeschlossen auf ewig! Da kam mir eine Zeile aus einem der verbotenen Bücher in den Sinn. Das Zitat stammt von John F. Kennedy:

Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge - absichtsvoll, künstlich, unehrlich -, sondern der Mythos - fortdauernd, verführerisch und unrealistisch. Der Glaube an Mythen ermöglicht, eine Meinung zu haben, ohne denken zu müssen.“


Ich finde mich mittlerweile gut in meinem neuen Leben zurecht. Ich lebe in New York City. Ich bin beruflich erfolgreich. Ich habe ein Liebesleben. Ich habe neue Freunde. Ich gehe auf ein Abendcollege. Manchmal jogge ich nach einem langen Tag im Battery Park. Es ist schwer, nicht das rote Wachtturm Zeichen zu bemerken, das von der Zentrale in Brooklyn über den Fluss herüberleuchtet. Jeden Morgen, wenn ich die U-Bahn an der Grand Central verlasse, sehe ich Schwestern, entrückt in ihren inneren Frieden. Jede hält ein Magazin mit dem Paradies als Titelbild nach oben. Ich erinnere mich daran, wie sinnlos es war, diesem Mythos nachzujagen. Jetzt kann ich mein Leben selbst gestalten.



Amber Scorah kommt aus Vancouver, Kanada. Sie lebte sechs Jahre in Taipei und Shanghai. Sie war Autorin und Moderatorin der beliebten Serie „Dear Amber: Der Ratgeber über das Leben von Ausländern in China.“ Amber lebt und arbeitet in New York City, and spricht flüssig chinesisch.



Hier der Link zur Originalversion: http://www.believermag.com/issues/201302/?read=article_scorah


Und weitere Infos zur Autorin: 
http://www.amberscorah.com